Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV)

Ein Fallbeispiel aus den persönlichen Erfahrungen mit der Huntington-Erkrankung in der Familie

Foto A.C.
Frau C. in 2011, Foto A.C.
Frau C. in 2015, Foto A.C.
Frau C. in 2018, Foto A.C.
Frau C. in 2020, Foto A.C.

Mein Name ist Anne, ich bin 39 Jahre alt und meine Mutter ist an der Huntington Krankheit erkrankt. 2015 haben wir Kontakt zum Palliativnetz unseres Landkreises aufgenommen, da ich bei meiner Arbeit als Krankenschwester innerhalb kurzer Zeit mit zwei Todesfällen zu tun hatte, die für alle Beteiligten nicht schön waren. So etwas wollte ich unserer Familie und vor allem meiner Mutter ersparen.

Bei der Huntington Erkrankung kann man plötzlich in lebensbedrohliche Situationen geraten und dann ist es wichtig, dass möglichst viele Situationen geklärt sind. Außerdem ist die/der Betroffene selbst im Verlauf der Erkrankung nicht mehr in der Lage, ihre/seine Wünsche und Vorstellungen klar zu äußern. Ein SAPV-Team ermöglicht vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten (Hospizdienste, ärztliche Betreuung zu Hause, Pflegedienste,...) in kritischen Krankheitsphasen bis hin zum Tod im häuslichen Umfeld. SAPV steht für Spezialisierte ambulante Palliativversorgung.

2019 hatte ich über meinen Arbeitgeber die Möglichkeit, an einer Fortbildung “Basiskurs Palliative Care“ teilzunehmen. Das Thema Palliative Care (Wikipedia: Palliative Care …in Deutschland teils gleichbedeutend mit Palliativversorgung verwendet, ist ein international anerkanntes umfassendes Konzept zur Beratung, Begleitung und Versorgung schwerkranker Menschen jeden Alters mit einer nicht heilbaren Grunderkrankung) hat mich aufgrund meiner persönlichen Situation, aber auch aus beruflicher Sicht, sehr interessiert und so habe ich 2020 die Möglichkeit zur Weiterbildung zur Palliative Care Fachkraft genutzt.

Mit einer Abschlussarbeit hat man zusätzliche Weiterbildungsmöglichkeiten, wie z. B. eine onkologische Fachweiterbildung. Daher habe ich mich entschieden, in der Abschlussarbeit als Fallbeispiel über den Krankheitsverlauf meiner Mutter zu schreiben.

Anne

 

Definition Chorea Huntington

Chorea Huntington (HD) ist eine unheilbare, erbliche Erkrankung des Gehirns, sie ist die häufigste erblich bedingte Hirnstörung, in Europa liegt die Prävalenz bei 5,7:100.000 (Stand 2012).

Das Striatum, der Teil des Gehirns, welcher für die Muskelsteuerung und grundlegende mentale Funktionen zuständig ist, wird durch das Protein Huntingtin zerstört.

HD ist autosomal-dominat vererbbar, d. h. dass Kinder eines betroffenen Elternteils mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% erkranken können, sind beide Elternteile betroffen steigt die Wahrscheinlichkeit auf 75% an. Generationensprünge kommen nicht vor, Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen.

Der Gendefekt liegt auf dem 4. Chromosom, das Basentriplett CAG hat einen Normwert von 16-20 Wiederholungen, bei 27-35 liegt eine geringe Erhöhung ohne Ausbruch einer Erkrankung vor. Bei 36-39 CAG´s kann eine Erkrankung ausbrechen, je häufiger die Wiederholung der CAG´s desto früher bricht die Erkrankung aus, bei über 60 CAG´s liegt eine Erkrankung im Kindesalter vor, es wurde ein Ausbruch im vierten Lebensjahr beschrieben.

Eine Diagnostik ist erst seit 1993 möglich, da wurde das Huntington-Gen entdeckt, vorher war es eine reine Ausschlussdiagnose.

Erste Symptome treten häufig zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auf, psychische Beschwerden (Affekt- u. Antriebsstörungen, Depressionen, Gedächtnisstörungen) gehen den Bewegungsstörungen (unruhige Arme u. Beine, Grimassieren) oft mehrere Jahre voraus.

Bewegungsstörungen steigern sich im Verlauf der Krankheit in choreatische Hyperkinesien, plötzlich einsetzende unwillkürliche Bewegungen verschiedener Muskeln, sprechen und schlucken fallen zunehmend schwerer.

Bei zunehmendem Krankheitsverlauf erhöht sich die Muskelspannung, was zu minuten- bis stundenlangen Fehlstellungen der Gliedmaßen führen kann, manchmal schmerzhaft.

Anstelle des Grimassierens tritt evtl. eine Anarthrie, d.h. die völlige Unfähigkeit Sprechbewegungen auszuführen, und der Patient ist nicht mehr in der Lage sich durch Mimik, Gestik oder Sprache verständlich zu machen.

Psychisch entwickeln Patienten im Spätstadium eine subkortikale Demenz mit Verlust von kognitiven Fähigkeiten, Störungen der Merkfähigkeit, Desorientierung und Sprachverarmung, manchmal entwickeln Patienten auch Wahnvorstellungen.

 

Fallbeispiel Frau C.

Frau C. ist 57 Jahre alt, verheiratet, hat vier Kinder und 3 Enkelkinder. Sie wohnt in einer kleinen Ortschaft (130 Einwohner) auf dem Land. Gelernt hat sie Hotelfachfrau, hat diesen Beruf aber nicht ausgeübt, da sie mit ihrem Ehemann zusammen einen landwirtschaftlichen Betrieb betrieben (bis 1991) und kurz nach der Heirat die vier Kinder (1981-1987) groß gezogen hat.

Seit ca. 2000 treten phasenweise erste Symptome auf wie Antriebsarmut und depressive Verstimmungen, Veränderungen des Gang- und Schriftbildes oder Ungeschicklichkeiten der rechten Hand.

In 11 Jahren werden Diagnosen wie Morbus Wilson, Hallervorden-Spatz-Syndrom, Neuroferrinopathie oder fokale Dystonie gestellt und im Verlauf wieder revidiert.

Bei einem Reha-Aufenthalt 2010 wird eine weitere Diagnostik empfohlen, die im April 2011 (Medizinische Hochschule Hannover) zur gesicherten Diagnose Chorea Huntington führt; mittels Gentest werden 43 CAG´s festgestellt.

Bis Oktober 2011 war Frau C. auf 450€-Basis beschäftigt, sie hat ihren Führerschein im Juni 2011 abgegeben und wird vom Ehemann bzw. den Kindern gefahren.

Sie ist in ambulanter neurologischer Behandlung und fährt 1x jährlich nach Münster zur Studienvisite ins George-Huntington-Institut.

Seit dem 1.1.2017 hat Frau C. Pflegegrad 5, sie besucht 2x wöchentlich eine Tagespflege und 5x pro Woche kommt eine Mitarbeiterin der Sozialstation zum Waschen bzw. Duschen. Die weitere Versorgung wird durch den Ehemann und eine Tochter geleistet.

Die Patientin wird im Rollstuhl mobilisiert und benötigt Hilfe beim Transfer. Nahrung wird größtenteils angereicht.

Im Juni 2017 hat sich die Familie von Frau C. an das Palliativnetz gewendet, da Frau C. zunehmende Schluckstörungen hat, Schmerzen im linken Knie. Sie ist leicht reizbar, weint und schreit sehr viel, dieses lässt sich nur sehr schwer von ihr kontrollieren. Im Gespräch mit dem Palliativmediziner wird die vorhandene Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung (2015) besprochen und ergänzt. Betreuungsverfahren, Symptomkontrolle des Krankheitsbildes im Verlauf, Off-Label-Use von Medikamenten wird mit der gesamten Familie deutlich besprochen sowie die Möglichkeiten der palliativen Sedierung.

Frau C. äußert, dass ihr die Tagespflege zu viel ist, wie auch das Kaffeetrinken 2x/Monat mit einigen Frauen aus dem Ort. Sie ist lieber zu Hause. Fühlt sich selbst als "überflüssig" und äußert, dass sie für die palliative Situation zu Hause ein zu schwerer Fall ist, erwähnt Hospiz.

Versuch von Robinul zur Speichelreduzierung, Schmerzmittel werden angepasst, sowie Tavor von 1mg auf 2,5mg Bedarf erhöht, die Familie über den Hospizdienst informiert.

Juli: deutliche Besserung, Frau C. hat weniger Schmerzen, das Schlucken fällt ihr leichter durch die Speichelreduzierung, die emotionalen Ausbrüche werden weniger, sind mit Tavor gut zu steuern. Die Tochter muss in Kürze operiert werden, dann ist die familiäre Situation angespannt. Frau C. hat ein Pflegebett erhalten.

August: Frau C. ist symptomatisch stabil, sie scheint insgesamt schwächer geworden zu sein in den letzten Wochen. Für September ist ein Reha-Aufenthalt auf einer Huntington-Station in Heiligenhafen geplant, z. Zt. keine SAPV (Spezialisierte ambulante Palliativversorgung) nötig, im Bedarfsfall sofortige Einschreibung wieder möglich.

Medikation: Quetiapin 25-25-50mg; Sulpirid 3x 100mg; Pantozol 1x 20mg; Nitoman 12,5-12,5- 25mg; Ibuprofen 1x800mg; Fentanyl 12 alle 3 Tage; Scopoderm TTS alle 3 Tage ein Matrixpflaster.

Bei Bedarf: Effentora 100 Mikrogramm; Tavor 1mg expedit bzw. 2,5 mg expedit.

Nach dem Klinikaufenthalt in Heiligenhafen im September/Oktober 2017 kehrt Frau C. zurück in die häusliche Umgebung. Sie ist medikamentös neu eingestellt, Schmerzen im linken Knie sind weg, Mobilität stabil mit Rollstuhl und Huntington-Sessel.

Medikation: Quetiapin 25-25-50mg; Sulpirid 3x 100mg; Pantozol 1x 20mg; Tavor 4x 0,5mg (ab 19.12.´17 0-0-0,5-0,5mg); Nitoman 3x 12,5mg. Bei Bedarf: Tavor expedit 1mg; Novaminsulfon 30 Tropfen und Pipamperon 40mg. Frau C. erhält 2x pro Woche Logopädie und Physiotherapie.

 

In 2018 entscheidet sich die Familie für einen Umbau um eine 24- Std.-Pflegekraft unterbringen zu können, da der Pflegeaufwand sich weiter erhöht. Für Transfers z. B. in das Auto wird eine Drehscheibe benötigt, da die Immobilität zunimmt.

Von Oktober 2018 bis April 2019 beschäftigt die Familie eine 24- Std.-Pflegekraft, diese akzeptiert Frau C. aber nicht, wird bei der Versorgung zeitweise aggressiv, auch bei der Sozialstation. Seit April 2019 geht die Patientin 3x/Woche zur Tagespflege, Ehemann und Tochter sind über ihre Grenzen hinaus belastet, suchen Hilfe bei der Klinik in Heiligenhafen.

Vom 21.5. bis zum 20.6.2019 wird Frau C. auf der Huntington-Station in Heiligenhafen stationär behandelt. Die Tochter und der Ehemann entscheiden sich, einen stationären Pflegeplatz für die Mutter zu suchen. Die Familie bringt Frau C. nach dem Klinikaufenthalt direkt in ein Pflegeheim.

Dort wohnt sie jetzt ein gutes Jahr und hat sich gut eingewöhnt. Sie erhält regelmäßigen Besuch von der Familie. Bis zum Ausbruch von Corona sind auch die Frauen aus dem Heimatort 2x/ Monat zu Kaffee und Kuchen vorbei gekommen, sowie diverse Freunde und Bekannte haben sie in Begleitung des Ehemanns besucht.

Anne, September 2020