Symptome und ich

Seit einiger Zeit sind die Symptome der Huntington immer wieder Thema bei mir. Ich bin jetzt 43 Jahre alt geworden und wenn man den vielen Informationen im Internet glaubt, dann müssten bei mir schon erste sichtbare Symptome der Huntington erkennbar sein. Alle Lesende, die die TV-Serie „Einstein“ verfolgt haben, erinnern sich sicherlich an das kleine Notizbuch, in dem der Hauptdarsteller regelmäßig seinen körperlichen Zustand genau festgehalten hat. Tatsächlich habe auch ich schon darüber nachgedacht, meine Wehwehchen in einem Notizbuch zu dokumentieren. Doch was sind die Symptome der Huntington Erkrankung und was liegt am zunehmenden Alter? Oder vielleicht an einer anderen Erkrankung? Welche Veränderungen meines Körpers liegen außerhalb des üblichen Bereichs?

Wenn ich Fremden versuche zu erklären, was Huntington für eine Erkrankung ist, weil sie noch nie davon gehört haben, lautet meine Antwort: Eine Mischung aus Parkinson und Alzheimer. Natürlich ist das medizinisch gesehen nicht ganz korrekt. Aber die meisten können mit diesen Krankheiten etwas anfangen, weil diese viel bekannter sind als Huntington. Außerdem muss ich zugeben, dass obwohl mich bereits seit mehr als acht Jahren meine „Rosie“ Huntington jetzt begleitet, mir immer noch schwer fällt, die Symptome der Huntington klar zu definieren. Diese Erkrankung kann so viele „Symptome“ und Auswirkungen haben, da letztlich auch viele individuelle Umstände den Verlauf beeinflussen können. Negativer Stress ist bei jeder Krankheit Gift. Sport, Ernährung, ausreichend Schlaf, persönliche Resilienzen, und vieles mehr.

Dann gibt es auch noch den individuellen Faktor, denn die Schulmedizin nicht erklären kann und der doch bei jeder Erkrankung entscheidend ist. Was ich damit meine, ist eigentlich leicht erklärt. Wir alle kennen Statistiken und Wahrscheinlichkeiten; bei Krankheiten, für Lottogewinne, bei Klassenarbeiten in der Schule, das Wetter der kommenden Woche, bei Landtagswahlen, für Unfälle im Straßenverkehr, etc. Und doch kennt jeder auch die Geschichten von Menschen, die sich außerhalb von diesen Statistiken bewegen. Bei denen alles anders verlaufen ist als üblicherweise.

Die Menschen, die trotz schlechter Prognosen einer seltenen Erkrankung, viel älter wurden als erwartet. Die Menschen, die ihre Krebserkrankung schneller besiegt haben, als die Statistiken es prognostiziert haben. Die Menschen, die zweimal in ihrem Leben vom Blitz getroffen wurden. Die Menschen, die trotz geringer Chancen eine Misswahl gewonnen haben. Natürlich gibt es auch hier die andere Seite der Medaille. Die Menschen, die trotz bester Prognosen bei einer alltäglichen Operation sterben. Die Menschen, bei denen die Krebserkrankung schneller tödlich verläuft. Die Menschen, die trotz Favoritenrolle eine Meisterschaft im Sportverein nicht gewinnen.

Doch kommen wir zurück zu den Symptomen der Huntington. Obwohl es die Erkrankung schon so lange gibt, kann niemand hundertprozentig vorhersagen, wann wir Genträger welche Symptome haben werden und wie diese Symptome konkret aussehen werden. Natürlich gehören kognitive, motorische und psychische Veränderungen dazu. Aber wie die Veränderungen konkret aussehen, kann man schwer voraussagen. Gerade bei unserem Gendefekt ist der individuelle Faktor sehr wichtig.

Vor einigen Monaten hatte ich ein sehr langes Telefonat mit einer anderen Genträgerin, die erst seit einigen Monaten von ihrem Gendefekt Kenntnis hat. Sie berichtete mir viel von ihrer Tochter, die mit einer seltenen Beeinträchtigung geboren wurden. Dem geistig und körperlich behinderten Mädchen wurde nur eine Lebenszeit von sehr wenigen Jahren diagnostiziert. Doch ihre Eltern nahmen das Schicksal in die eigene Hand und ließen sich in Philadelphia in den USA als Trainer für Menschen mit geistiger Behinderung ausbilden. Die Wohnung in Krefeld wurde zum Therapiezentrum, die Kleine wurde ganztags behandelt. Das Mädchen wurde 17 Jahre und einen Monat alt.

Das Leben von diesem Mädchen ist für mich das beste Beispiel, dass es immer wieder Ausnahmen im Leben geben kann. Die Ausnahmen, die von den Statistiken abweichen. Die Ausnahmen, die vielleicht trotz Gendefekt aufgrund des individuellen Faktors wie eigene Resilienzen, Ernährung, Sport, Stress vielleicht bestimmte Veränderungen einer Huntington nicht auftreten.

Sind mir mal realistisch. Die meisten Betroffenen und Angehörigen kannten früher die Erkrankung Huntington nicht. In der Regel kommt man erst mit dieser Erkrankung in Berührung, wenn erste Symptome auftreten oder ein Familienangehöriger Symptome hat. In den wenigsten Familien wird offen über „Familienerkrankungen“ gesprochen. Die wenigsten Eltern und/oder Großeltern setzen sich hin und berichten, dass es in der eigenen Familie bestimmte Symptome einer Erkrankung in jeder Generation gibt. Das man dadurch davon ausgeht, dass die Kinder und Enkelkinder ein erhöhtes Risiko für diese Erkrankung auch haben. Zum einen hat man die Hoffnung, dass die Kinder und Enkelkinder die Erkrankung nicht vererbt bekommen haben. Zum anderen sind wenige ältere Generationen getestet, weil es die Testung erst seit Mitte der Neunziger gibt. Und letztlich weil man den Verlauf des Lebens nicht vorhersehen kann.

Auch wenn es noch so viele Statistiken zu bestimmten Themen gibt. Letztlich sind wir einfach alle Individuen, die unsere eigene Lebensgeschichte schreiben. Vielleicht kann auch ich ein positives Beispiel eines Menschen sein, der nicht in die Statistiken der Huntington passt und deren erste Symptome bzw. kognitive, motorische und psychische Veränderungen erst mit dem sechsten Jahrzehnt auftreten. Durch meine frühe Kenntnis meines Gendefekt und meinem Weg zu meinem Gentest bin ich sowieso schon ein individueller Fall. Und was ich selbst nicht beeinflussen kann, versuche ich zu akzeptieren.

Eure Doris

Januar 2023

PS: Schreibt mir gerne an doris@dhh-ev.de