Erinnerungen und ich

Das aktuelle Jahr geht langsam zu Ende. In dieser Zeit blicken viele auf die letzten Monate zurück und erinnern sich, was sich ereignet hat bzw. was sie erlebt haben und was in diesem Jahr passiert ist. Hierzu ist mir ein besonderes Phänomen aufgefallen, was mir so früher nicht bewusst war. Und doch begleitet uns Menschen alle dieses Phänomen. Es geht dabei um die Erzählung oder Wiedergabe von Erinnerungen. Wie oft diskutieren wir mit anderen über Einzelheiten oder Kleinigkeiten bei der Erzählung über bestimmte Ereignisse. Früher dachte ich oft: „Was erzählt der denn da? So war das doch gar nicht!“ Oder: „Das stimmt doch so gar nicht. Das gibt er völlig falsch wieder!“ Geht es euch nicht auch manchmal so?

Per Definition sind Erinnerungen eine Vielzahl von bildhaften Elementen, Szenen, die wie ein Film ablaufen, Geräusche und Klangfarben, oft auch Gerüche und vor allem Gefühle. Erinnerungen werden komprimiert im Langzeitgedächtnis abgespeichert und werden von dort abgerufen. Unter Erinnerungsvermögen versteht man, die Fähigkeit diese Erinnerungen im Gedächtnis zu finden. So weit ist uns das vermutlich allen klar. Entscheidend bei Erinnerungen sind für mich die Gefühle, Gerüche, Geräusche, etc. – einfach alles was unsere Sinne stimuliert. Dadurch nehmen wir Erlebnisse und Ereignisse sehr individuell wahr.

Sicherlich kennen einige von euch die Situationen, in denen man mit jemand über etwas Vergangenes spricht und der Gegenüber diese Situation oder das Ereignis anders erlebt hat bzw. andere Erinnerungen daran hat oder sich nicht mehr daran erinnert. Vielleicht denken ein paar Leser jetzt: „Klar, ganz klassisch ein Symptom der Huntington!“ Spannenderweise kommt dies nicht nur bei Genträgern vor. Jeder erlebt Ereignisse anders aufgrund der eigenen Prägung, Erlebnisse, Erfahrungen oder Persönlichkeit.

Für viele sind die Geräusche von Feuerwerk ein positives Erlebnis, für manche erinnern die Geräusche allerdings an Krieg, Bomben oder Beschuss. Es hängt also davon ab, was jeder ganz individuell erlebt hat und/oder damit verbindet. Ein sehr einfaches Beispiel hierfür sind Kinofilme oder Konzerte. Bereits der Steh- oder Sitzplatz machen feine Unterschiede für die Wahrnehmung und die damit verbundene Erinnerung an den Film oder das Konzert. Dazu kommt noch, dass unser Gehirn sehr individuell speichert und ausmistet.

Manchmal werden Erinnerungen auch bewusst gelöscht von unserem Gehirn, weil wir nur eine bestimmte Speicherkapazität besitzen. Dies passiert in der Regel unterbewusst und lässt sich selten bewusst steuern. Zeitweilig löscht das Gehirn auch Erinnerungen, um unsere Seele zu schützen. Oder es hält bestimmte Erinnerungen für unrelevant. Auch für diesen Löschvorgang sind persönliche Prägung und Erfahrungen ausschlaggebend.

Natürlich gibt es auch noch Dinge, die wir vielleicht von unseren Eltern oder Lehrern „eingetrichtert“ bekommen haben. So wichtige Dinge wie der Satz des Pythagoras, die drei binomische Formeln oder das Gedicht des Schimmelreiters. Sicherlich hat jeder von euch, so bestimmte Dinge, die wir nicht vergessen, obwohl wir sie im Alltag nie gebrauchen werden.

Ein weiteres Beispiel für die unterschiedliche Wahrnehmung von Ereignissen und den dazugehörigen Erinnerungen sind Zeugenaussagen. Wie oft wurden Unschuldige für vermeintliche Verbrechen ins Gefängnis gebracht, weil vermeintliche Zeugen der festen Überzeugung waren, etwas Bestimmtes gesehen zu haben. Nun bringt nicht jede Zeugenaussage einen Unschuldigen ins Gefängnis. Man sagt aber auch nicht umsonst: „4 Ärzte, 5 Meinungen“.

Jetzt sind die Begriffe Erinnerung, Gehirn und Langzeitgedächtnis in Verbindung mit Huntington gewissermaßen vorbelastet. Mit meinem heutigen Text wollte ich euch etwas sensibilisieren, dass es nicht die eine richtige Erinnerung gibt. Wenn also eure Lieben, egal ob Genträger oder nicht, ihre Erinnerungen wiedergeben über vergangene Ereignisse, die eurer Meinung ganz anders passiert sind, dann führt euch immer wieder vor Augen, dass Erinnerungen genauso individuell sind wie der Mensch an sich. Manchmal hat unser Gedächtnis auch einfach bestimmte Informationen gelöscht, weil sie für uns nicht wichtig waren. Dafür erinnern wir uns aber haargenau an den Geruch von Rosen, wie der Apfelkuchen unserer Großmutter roch oder wie die Melodie unseres Lieblingslieds geht.

Ich wünsche allen Lesern eine angenehme, besinnliche Vorweihnachtszeit und einen guten Start ins Jahr 2023!

Eure Doris

Oktober 2022

PS: Schreibt mir gerne an doris@dhh-ev.de